Der Welt abhanden gekommen

Wie hat sich unser Verhältnis zur Dimension Zeit verändert? Und wie prägt das unser Konzept von Öffentlichkeit? Die Soziologin Alexandra Schauer denkt diese Fragen mit weitem Blick und spürt den epochalen Linien der Kulturgeschichte nach.

Es sind die ganz großen Bögen, die Alexandra Schauer interessieren. Veränderungen, die sich über Generationen hinweg entwickeln, die ganze Gesellschaften transformieren. Abstrakt und abgehoben bleibt die Forschung der Soziologin und Sozialphilosophin dabei jedoch nicht. Alexandra Schauer interessiert sich immer auch dafür, wie sich die epochalen Entwicklungen auf das Leben jeder und jedes Einzelnen auswirken, wie das sich verändernde kollektive Selbstverständnis den jeweils individuellen Lebenslauf prägt. Aber auch umgekehrt: Wie einzelne und für sich einzigartige Biografien zusammengenommen die ganz großen Transformationsprozesse mit vorantreiben.

Die Perspektive, durch die Alexandra Schauer dabei auf unsere Gegenwart blickt, ist durchaus eine historische. Manche Fäden, die sie in ihrem Buch „Mensch ohne Welt“ aufgreift, ragen ein paar Jahrhunderte in die Vergangenheit – und ziehen sich doch beharrlich weiter, reißen nicht ab bis in die Gegenwart. Die Welt erklären will Alexandra Schauer damit nicht, sie will Beobachtungen teilen, Phänomene beschrieben, Gegenwart in Bezug setzen.

Dimensionen der Zeit

In ihre Wiener Vorlesung geht Alexandra Schauer der Frage nach, „wie sich unsere gesellschaftlichen Gestaltungsvorstellungen verändert haben“. Ausgangspunkt ist dabei die höchst widerspruchsvolle Wahrnehmung von Gegenwart: „Wir haben es aktuell mit unglaublich vielen Krisenerscheinungen zu tun – die ökologische Krise, der Aufstieg des Autoritarismus weltweit, aber natürlich auch die Rückkehr des Krieges nach Europa. Wir stehen diesen Veränderungen eher ohnmächtig gegenüber, haben aber gleichzeitig das Gefühl, wir müssten etwas ändern. Zugleich wissen wir nicht so recht, was wir eigentlich ändern sollten. Dieses Gefühl ist der Ausgangspunkt. Ich versuche mich dem zu nähern, indem ich die größeren gesellschaftlichen Bewegungen befrage.“
Diesen weiten Blick zeichnet Alexandra Schauer mit drei Themenbereichen nach: unserer Vorstellung von Zeit, der Idee von Öffentlichkeit und dem Konzept Stadt.

Warum Alexandra Schauer gerade diese drei Kategorien gewählt hat? „Mit Hannah Arendt lässt sich sagen, die Welt ist ein Raum gemeinsamen Sprechens und Handelns. Es ist ein Raum gesellschaftlicher Selbstverständigung. Und für diesen Raum spielen drei Dimensionen eine zentrale Rolle. Wie wir Zeit wahrnehmen, dass wir uns überhaupt als zeitliche Wesen wahrnehmen. Welt meint dann auch einen Ort in der Öffentlichkeit, das heißt die Art und Weise, wie Öffentlichkeit funktioniert, ist dabei zentral – aber auch, wie sich das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit verändert. Stadt wäre für mich dann gewissermaßen die Umweltdimension, weil sie ab dem 18. Jahrhundert eigentlich der zentrale Ort des gesellschaftlichen Lebens ist – und weil Stadt der Hintergrund für die Entwicklung in den anderen beiden Dimensionen ist.“

Flexible Planlosigkeit

Schon der Titel von Alexandra Schauers Wiener Vorlesung „Mensch ohne Welt. Weltverhältnisse in der Spätmoderne“ legt nahe, dass das Szenario, das die Soziologin skizziert, nicht lupenrein hoffnungsvoll ist. Zeit wird immer zentraler, analysiert sie, doch sie ist von einer gemeinsamen geteilten Dimension zum individualisierten Phänomen geworden: „Man kann sehen, dass die Uhr im Zuge der Entwicklungsgeschichte immer wichtiger wird. Wir haben erst die öffentlichen Uhren, dann die Pendeluhr, dann die Stechuhr, dann die Armbanduhr. Und wir sehen das Verschwinden der öffentlichen Uhren. Sie werden ersetzt durch immer komplexere Formen der Zeit-Kontrolle.“

Diese Veränderungen machen etwas mit uns, ist Alexandra Schauer überzeugt, sie beschleunigen Prozesse, takten Abläufe und damit Biografien immer enger: „Aus der Perspektive der Einzelnen erleben wir es als eine Individualisierung und Privatisierung von Zeitstrukturen. Das gilt natürlich nicht gesamtgesellschaftlich, weil wir natürlich immer noch eine einheitliche Zeitstruktur haben, die Prozesse koordiniert. Aber es zeigt sich daran, dass bestimmte Logiken der Planbarkeit an Bedeutung verloren haben. Wir arbeiten nicht mehr von neun bis fünf, wir können im Internet tendenziell rund um die Uhr einkaufen oder Nachrichten sehen, wann immer wir wollen.“

Was wir damit gewinnen, ist Flexibilität und damit die Möglichkeit, sich ein Leben maßzuschneidern. Was wir dabei aber verlieren, ist der gemeinsame kollektive Zeitbezug – und damit letztlich der geteilte Weltbezug. Denn mit unserem Verhältnis zu Zeit, ordnet Alexandra Schauer ein, verändert sich auch unser Verständnis von Öffentlichkeit, von Gemeinschaft, von Stadt – verändert sich unsere Beziehung zur Welt. „Wir haben es mit einem Verlust kollektiver Zeitstrukturen zu tun, die einerseits dazu beiträgt, dass wir zwar kurzfristig relativ viel entscheiden können, aber die langfristige Zukunft immer unplanbarer erscheint – auf einer ganz persönlichen, aber auch auf einer politischen Ebene.“

Wiederentdeckung des Möglichen

Es geht Alexandra Schauer bei ihrer Forschung nicht darum, einen konkreten Plan zu erstellen, wie wir mit diesen Erkenntnissen umgehen können oder sollen. Im Zentrum steht die Idee, für komplexe Fragen zu sensibilisieren: „Was ist uns mit dieser gemeinsamen Zeit eigentlich verloren gegangen? Wo müsste man ansetzen? Und was gälte es da überhaupt wiederzugewinnen?“ Über dieses Sensibilisieren entstehen konstruktive Bilder einer Gesellschaft mit geteilten Wahrheiten, gemeinsamen Gestaltungsmöglichkeiten oder auch kollektiver Planungssicherheit.

Auch mit ihrer Wiener Vorlesung möchte Alexandra Schauer zum Weiterdenken anregen, scheinbar unverrückbare Tatsachen hinterfragen oder zumindest in einen Kontext stellen: „Woher kommen unsere Perspektiven auf die Welt? Woher kommt unser Selbstverständnis? Und könnte nicht vielleicht alles auch anders sein? Diese Idee, dass alles auch ganz anders sein könnte, hat über Jahrhunderte gesellschaftliche Kämpfe angetrieben – im positiven wie im negativen Sinn. Das ist aber etwas, das uns verloren gegangen ist.“ Darin steckt dann doch ein hoffnungsvoller Keim: Wenn wir uns als Gesellschaft wieder eine andere, eine vermeintlich bessere Welt vorstellen können, kann sich das Gefühl der Ohnmacht wandeln. Dann lässt sich ganz ohne Pathos sagen: Wenn wir eine andere Welt (wieder) für möglich halten, können wir beginnen, sie gemeinsam zu gestalten.

Verfasst von Judith Belfkih / Wiener Vorlesungen

Informationen zur Veranstaltung:
Wiener Vorlesung, 8.4.2025

Alexandra Schauer


© Anni Reeh