Das Unbehagen der Fleischlichkeit
Krone der Schöpfung, vernünftiges Tier oder Parasit der Erde? Philosophin Lisz Hirn geht einer ebenso zeitlosen wie unbequemen Frage nach: Was macht den Mensch heute zum Menschen?
Eine komplexe Situation konsequent durchdenken, ganz ohne moralische Bewertung oder emotionale Verstrickungen. Dabei die persönlichen Themen auf eine Metaebene stellen, Argumente und Perspektiven von allen Seiten zulassen – auch die unangenehmen. Aus der Distanz des Geistes, der Vernunft auf das eigene Leben blicken. In die philosophische Praxis von Lisz Hirn kommen Menschen mit ganz unterschiedlichen Fragestellungen, alltäglichen, traumatisierenden, weltanschaulichen. Was sie in der Philosophie suchen, sind nicht unbedingt konkrete endgültige Antworten, vielmehr geht es darum „ihren Gedankensträngen einmal bis zum Ende zu folgen, die Logik hinter den eigenen Mustern und Haltungen herauszuarbeiten“, erzählt die Philosophin: „Ohne, dass jemand sagt, das darf man nicht, das ist ja nicht normal. Es geht darum, sich mit dem eigenen Denken auseinander zu setzen, der eigenen Existenz, den eigenen Wahrnehmungen und Anschauungen.“
Selbstvergessenheit nennt Lisz Hirn den Idealzustand, der dabei entstehen kann: „Weg vom Ich, von der Idee, sich ständig zu verbessern, zu optimieren. Durch die Perspektive der Philosophie steht dann nicht mehr die Person im Zentrum – vielmehr eine Idee, die einen antreibt, die eigene Art zu denken.“ Nachdenkräume aufspannen, das tut Lisz Hirn auch öffentlich, veranstaltet regelmäßig philosophische Cafés, lädt zum Philosophieren im Grätzl oder übt sich auf der Bühne des Akademietheaters im Nachdenken. Diese öffentlichen reflektierenden Denkräume erfreuen sich steigender Beliebtheit, erzählt Lisz Hirn – vor allem seit der Pandemie. „Viele Menschen haben keine Lust mehr auf reine Debatten, auf argumentatives Kämpfen bis zum Blut. Sie mögen, dass da moderiert wird, dass respektvoll miteinander nachgedacht wird – ganz bewusst in analogen Räumen, face-to-face.“
Der Wunsch vom Überwesen
Der Nachdenkraum, den Lisz Hirn in ihrer Wiener Vorlesung aufspannt, greift eine der existenziellen Fragen der Philosophie auf: „Was ist der Mensch – ökologisch gesehen, technologisch, anthropologisch? Was bedeutet es unter den aktuellen Bedingungen überhaupt, Mensch zu sein? Was sind die Unterschiede zu vergangenen Konzepten? Gibt es da auch Wunschvorstellungen, die wir jetzt in dieses Menschsein legen anhand der technologischen Entwicklungen? Sehen wir ihn als bedroht an oder sehen wir so etwas wie ein neues Überwesen, das jetzt entstehen kann?“ Es sind unbequeme Fragen, die sich hier auftun. Für Lisz Hirn ein möglicher Grund dafür, dass diese doch so entscheidende Fragestellung in der jüngeren Geistesgeschichte immer wieder umschifft wurde: „Wir reden enorm viel über Technik, über Medizin und Moral, sehr viel über Religion, aber wir setzen uns eigentlich nie wirklich profund mit dem Menschen auseinandersetzen, fragen uns kaum, wie wir uns eigentlich selbst verstehen. Das ist immer noch eine Leerstelle.“
In ihrem jüngsten Buch „Der überschätzte Mensch“ versucht Lisz Hirn eben jene philosophische Leerstelle ein Stück weit zu füllen. Die Publizistin entwirft dabei eine „Anthropologie der Verletzlichkeit“, in der es um ein zeitgemäßes Bild einer Menschheit im Umbruch, im Übergang in ein neues digitales Zeitalter geht. Den Ausgangspunkt der Überlegungen bildet dabei die Fleischlichkeit des Menschen, die wir mit innovativen Technologien und immer neuen digitalen Hilfsmitteln gerne ausblenden aus unserem modernen Menschenbild. Lisz Hirn hinterfragt die Idee, dass der Mensch unfehlbar oder „die Krone der Schöpfung“ sei, und plädiert stattdessen für ein realistisches Bild unserer Grenzen, insbesondere unserer Verletzlichkeit.
Das Lob der Grenze
In welcher Hinsicht überschätzt sich der Mensch der Gegenwart? Lisz Hirn: „Ich glaube wir überschätzen uns in unserem Entwicklungspotenzial – gerade in Hinblick auf Technik, die wir auf eine Weise ausreizen wollen, die ich nicht für realistisch halte. Unsere Physiologie gibt uns Grenzen auf – und das ist jetzt nicht unbedingt negativ. Erst unsere Grenzen machen gewisse Konzepte wie Freiheit oder Politik überhaupt möglich. Wären wir nicht verletzliche Wesen, die in vielem ungleich sind oder mit verschiedenen Herausforderungen beladen sind, dann müssten wir keine moralischen Streits führen – und bräuchten auch keine Politik. All diese Konzepte haben wir aufgrund dieser besonderen Disposition als Menschen.“
Einen Nachdenkprozess über genau diese besondere und vielseitige menschliche Disposition möchte Lisz Hirn auch mit ihrer Wiener Vorlesung anregen: „Wir neigen dazu, unsere Fleischlichkeit, unsere Verletzlichkeit immer wieder ein Stück weit auszublenden – durch Risikominimierung und Versicherungen, durch Technik und Medizin. Wir haben ein gewisses Unbehagen, danach zu forschen, hier neugierig zu werden. Genau diese Neugierde, den eigenen Zustand zu erforschen, möchte ich gerne wecken.“
Verfasst von Judith Belfkih / Wiener Vorlesungen
Informationen zur Veranstaltung:
Wiener Vorlesung, 25.3.2025
Lisz Hirn
© Inge Prader