„Schule der Menschlichkeit“

Die letzten Zeitzeugen der NS-Gewalt verstummen, Gesellschaften werden pluralistischer. Für die Historikerin Mirjam Zadoff zwei Gründe, um weiter an einer globalen Erinnerungskultur zu arbeiten.

Es ist so etwas wie die Grundformel des Menschseins: Sich zu erinnern, einander davon zu erzählen und daraus einen gemeinsamen Erinnerungsraum zu schaffen. Dieses sprachlich-kulturelle Gedächtnis einer Gesellschaft ist die Basis für ihr Selbstverständnis, ihre Identität, ihren Erfahrungsschatz – und damit auch die Grundlage für Fortschritt. Im Idealfall. Denn aus den Fehlern anderer, gar aus der Geschichte zu lernen, daran ist die Menschheit immer wieder kläglich gescheitert. Auch – und vor allem – im 20. Jahrhundert.
Warum es dennoch wichtig ist, weiter an einer Erinnerungskultur zu arbeiten, damit beschäftigt sich die in München forschende Historikerin Mirjam Zadoff seit vielen Jahren. Am 9. November gibt sie bei einer Wiener Vorlesung im ORF Radiokulturhaus Einblick in ihre höchst aktuelle Forschung.

„Das Nachdenken über die Vergangenheit ist schon alt“, erzählt Mirjam Zadoff im Interview. Jünger sei hingegen das kollektive Nachdenken über Gewalt: „Das ist wesentlich schwieriger. Über Kriege wird nicht gerne gesprochen, das ist immer heikel. Bei einem Umsturz wurden alte Statuen zerstört und neue aufgestellt. Aber es wurde nur der Helden gedacht, nicht der Opfer. Das hat sich 1945 verändert.“ Dass aus einem neuen Blick auf die Gewalt des NS-Regimes das entstanden ist, was wir heute Erinnerungskultur nennen, hat für die Historikerin mehrere Gründe. Einmal waren es die Überlebenden des Holocaust selbst. Sie haben diesen Genozid quasi in Echtzeit dokumentiert – wie etwa im jüdischen Ghetto in Warschau, in dem jüdische Intellektuelle 1940 damit begonnen haben, versteckt im dem Exil ihre Geschichte aufzuschreiben.“

Neue Fackelträger

Ausschlaggebend für die kollektive Auseinandersetzung mit dem Holocaust war im deutschsprachigen Raum die Wiedervereinigung der Bundesrepublik, so Zadoff. Für eine neue nationale Identität war es nötig geworden, auch die Gewalt der NS-Zeit aufzuarbeiten. „Nach 1988 ist viel passiert, da wurde die Aufarbeitung staatstragend. Vom Holocaust-Mahnmal und dem Jüdischen Museum in Berlin über die Historikerkommission bis zu einer globalen Erinnerungskultur, in der sich weltweit Erinnerungsorte auf einander beziehen.“
Zentral für die meisten Projekte und Initiativen waren von Anbeginn Berichte von Zeitzeugen, die immer wieder in die eigenen Traumata eingetaucht sind, um eine emotionale Nähe zum Thema zu schaffen. Dass die letzten dieser Zeitzeuginnen dabei sind zu verstummen, verändert auch die Erinnerungskultur, so die Historikerin: „Überlebende waren auch juristische Zeugen. Ohne sie wird Zeugenschaft anfällig. Und es fehlen natürlich persönliche Bezüge.“

Eine weitere aktuelle Herausforderung, aber auch Chance für die Erinnerungskultur sieht Mirjam Zadoff neben dem zeitlichen Wegrücken auch in unserer pluralistischen Gesellschaft: „Viele Menschen, die heute in Deutschland und Österreich leben, haben eine andere Perspektive auf den Holocaust, eine nordafrikanische oder ukrainischen. Und sie bringen vielleicht eigene Gewalterfahrung mit. Das erfordert etwa an Schulen eine neue Sensibilität, weil hier die Gefahr von Retraumatisierung besteht.“
Wer könnten die neuen Fackelträger eines zeitgemäßen mahnenden Erinnerns an die Verbrechen des Nationalsozialismus sein? Zadoff: „Es sind Menschen, die eine vielfältige Gesellschaft mitdenken. In der dritten, vierten Generation der Opfer des Nationalsozialismus gibt es ein anderes Selbstbewusstsein in der Öffentlichkeit aufzutreten. Erinnern ist für sie ein inklusiver Prozess, in dem auch diverse Communities Platz haben – und damit auch neue Opfer.“

Wahrnehmung schärfen

Dass die weltweite Erinnerungskultur das Weltgeschehen positiv zu beeinflussen im Stande wäre, darauf deuten aktuelle Entwicklungen nicht hin – nicht in Europa, nicht im Nahen Osten.
Gänzlich absprechen will Mirjam Zadoff der Erinnerungskultur ihren Einfluss dennoch nicht: „Es braucht eine starke lokale Verortung in den Gemeinden, in denen Menschen aktiv werden. Aber es braucht auch Initiativen, die über nationale Diskurse hinaus gehen. Dabei geht es darum, einander gegenseitig den Blick zu schärfen. Da soll ja nicht Erinnerung globalisiert werden, es geht eher darum die Wahrnehmung zu schärfen.“

Der Erinnerungskultur in Europa wird vorgeworfen, den Blick für aktuelle Ereignisse zu beeinflussen. Ein „Nie wieder“ dem jüdischen Volk gegenüber mache blind für die Gewalt, die der Staat Israel etwa seit Jahren an Palästinensern verübt, so die Argumentation. Läuft da etwas schief in der Erinnerungskultur? Zadoff: „Eine ideal funktionierende Erinnerungskultur schafft Empathie. Sie versetzt in die Lage, unterschiedliche Perspektiven wahrzunehmen. Es ist eine Sensibilisierung in Menschlichkeit, eine Schule der Menschlichkeit.“ Das gelinge nicht immer, so Zadoff, das kollektive Gedächtnis werde immer wieder instrumentalisiert, auch in Deutschland: „Was man sich gewünscht hat ist, dass Erinnerung uns schützt. Das tut sie nicht.“

Gerade wegen neuer Gewalterfahrungen und gesellschaftlicher Herausforderungen setzt sich die Historikerin dafür ein, dass kommende Generationen von einer gelungenen Erinnerungskultur lernen: „Im Idealfall entwickeln sie eine Sensibilität für die Wichtigkeit, alle noch so kleinen sozialen Gruppen einer Gesellschaft zu schützen, sich auf Vielstimmigkeit einzulassen Das NS-Projekt bestand ja gerade darin, jede Art von Vielstimmigkeit zu vernichten, unmöglich zu machen. Und die Erinnerungskultur zeigt, dass Menschen in der Lage sind, neu anzufangen und einen Gegenentwurf zu Gewalt zu erschaffen – auch aus einer Gewalterfahrung heraus.“
Dass aktuelle Entwicklungen nicht dafür sprechen, dass das aufgeht, will Mirjam Zadoff nicht gelten lassen: „Es gibt keine Alternative. Wir haben keine andere Option, als es weiter zu versuchen.“

Verfasst von Judith Belfkih / Wiener Vorlesungen

Informationen zur Veranstaltung:
Wiener Vorlesung, 09.11.2023

Mirjam Zadoff


© NS Dokumentationszentrum München, Foto Connolly Weber Photography